Ein Appell für Europa
Am logischsten lässt sich diese Frage aus der Perspektive des Demokratiezustandes der Union betrachten. Einen leichten Stand hatte die Europäische Union in ihrer nunmehr 70 Jahre währenden Entwicklungsgeschichte nie. Landläufig heißt es auch: „Die EU könnte nie selbst Mitglied in der Europäischen Union sein.“. Ein Punkt auf den sich die Gegner*innen des größten internationalen Gemeinschaftsprojektes stets berufen, ist die fehlende demokratische Legitimation der Regierungsorgane innerhalb der EU und daraus abgeleitet ein Demokratiedefizit. Dieses wiederum lasse sich nach institutionellen und strukturellen Aspekten aufgliedern, welche es im Folgenden zu betrachten gilt.
Den Verteidiger*innen des europäischen Projekts, zu denen sich auch der Autor dieses Artikels zählt, wird vorgehalten, die Reformen der vergangenen Jahre seien nicht weitreichend
genug gewesen, so z. B. der Lissabon Vertrag Mitte der Nuller-Jahre, als Ersatz
für eine gescheiterte Verfassung. Auch diesen wichtigen Aspekt der Reformgebung
gilt es im Hinblick auf die Fragen nach einer demokratischen Union zu
betrachten.
Zum Abschluss muss es darum gehen, ob es
möglich wäre, die bestehenden Demokratiedefizite durch inner Reformen zu
beseitigen, oder ob die EU daran zerbrechen wird, bzw. ob sich eine Institution
überhaupt selbst reformieren kann, wenn ihr eigentlich die Legitimität
abgesprochen wird.
Augenscheinlich lassen sich in der Debatte grob
zwei Leitlinien unterscheiden. Stützt sich Erstere vor allem darauf, nach dem
Motto „no problem“ zu argumentieren, also zu konstatieren, die EU hätte kein
Demokratieproblem, hält ihr Konterpart dagegen und behauptet, dass die Union
sehr wohl ein solches Problem besäße.
Die Anhänger*innen der „No-problem-Theorie“
wollen geltend machen, dass die Maßstäbe zur Beurteilung des
Demokratisierungsgrades der EU bei dieser viel höher angesetzt würden, als bei
Nationalstaaten und somit zu einer Verzerrung der Bewertung führen. Auch wird
auf die Existenz demokratischer Stützen im Entscheidungsprozess aufmerksam
gemacht, so etwa das Europäische Parlament oder die Mehrheitsbeschlüsse der
Minister*innenräte.
Den Verfechter*innen der gegenüberstehenden
Antithese greifen diese Erklärungsversuche jedoch zu kurz. Anhänger*innen der
institutionellen Kritik machen deutlich, dass das Parlament immer noch zu
schwach sei, es müsse also zu einer Stärkung eben dieses, einzig direkt vom
Volk legitimierten Organs der EU kommen und auf der anderen Seite die Teile des
Entscheidungsprozesses geschwächt werden, welche auf intergouvermentalen
Prinzipien aufbauen, so etwa der Rat der Europäischen Union. Als Konsequenz aus
diesen Veränderungen würde sich auch die Notwendigkeit ergeben, die Rolle der
Europäischen Kommission genauer zu definieren und ihren Bedeutungsgehalt als
Quasi-Regierung der EU zu stärken, indem sie z. B. vom Europäischen Parlament
gewählt würde (bisher nur Bestätigung eines Vorschlags) und ihr*e Präsident*in
gegebenenfalls auch nur durch direkte Wahl ins Amt käme, an der sich zeitgleich
zur Parlamentswahl, alle EU-Bürger*innen beteiligen könnten. Dies würde auch
bedeuten, dass es Europäische Spitzenkandidierende geben würde und sich somit
auch die Brisanz der Wahl verstärken könnte. Um dies alles aber effektiv in
Szene zu setzen, müsse ein europäisches Parteiensystem ins Leben gerufen
werden, welches sich dann in einer europäischen Öffentlichkeit (z.B. gemeinsame
Medien) widerspiegeln könnte.
Einigen Kritiker*innen ist dies aber zu kurz
gegriffen, sie sehen keine Möglichkeit mehr die EU von Innen heraus zu reformieren
und sind für die generelle Auflösung. Die „no-demos-Theorie“ beruft sich vor
allem darauf, dass es weder eine gemeinsame Kultur, noch Sprache gäbe, ja noch
nicht einmal gemeinsamen Sport. In der Konsequenz bedeute dies, dass ein
europäisches Volk nur eine Utopie sei und nie Realität werden könne. Innerhalb der Partei DIE LINKE lassen sich durchaus auch Tendenzen in diese Richtung erkennen. So gibt es einige Personenkreise, die der Meinung sind, einen echten sozialen Wandel kann man nur erreichen, wenn man die Reformen innerhalb des eigenen Nationalstaates angeht, da die EU-Institutionen vom Turbo-Kapitalismus geprägt seien und somit schon in ihrer Grundstrukturen allen linken Idealen zuwider laufen.
Interessanterweise hat sich auch das
Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen genau dieser „no-demos-Theorie“
angeschlossen und stellte fest, dass „neben der Bundesregierung, den
gesetzgebenden Körperschaften eine besondere Verantwortung im Rahmen der
Mitwirkung {obliegt}“. Auch bestätigt das BVerfG in seinem Urteil von 2009 eine
Klageoption, falls jemand feststellen würde, dass dies nicht mehr gegeben sei.
So gilt auch hier, dass der Nationalstaat immer noch als primärer
Entscheidungsrahmen zu gelten habe und damit das Prinzip der Subsdiarität
Anwendung finden soll.
Wind aus den Segeln nehmen sollten den EU-Gegner*innen
(zu mindest denen des Demokratiedefizits) die Reformen der EU in den letzten
Jahrzehnten. Die wohl bedeutendste in der jüngeren Vergangenheit stellt
wohl der Lissabon Vertrag, welcher 2009 in Kraft trat, dar. Mit ihm gewann das
EU-Parlament maßgeblich an
Kompetenz, so dass es nun in allen ordentlichen Gesetzgebungsverfahren
eingebunden wird. Im Rat wurde ein neues Mehrheitssystem eingeführt, welches
verhindert, dass ein Staat allein Entscheidungen blockieren kann und die
kleinen Staaten zu viel Einfluss besitzen. Auch die Etablierung eines
Europäischen Bürgerbegehrens fand Einzug in die Gesetzestexte. Allerdings, so
die Kritiker*innen, greifen die Reformen zu kurz und überhaupt sei durch den
Nichtwillen der Mitgliedsstaaten und auch der in ihnen lebenden Bevölkerung,
viel nicht festgeschrieben wurden, um die EU zu demokratisieren. Insgesamt hat sich durch den Vertrag von Lissabon auch eine weitere Liberalisierung der Wirtschaft und die Option für eine künftige Militarisierung der EU manifestiert, beides Punkte, die von Linken durchaus mehr als kritisch gesehen werden.
Abschließend lässt sich also sagen, dass eine
weitere Europäisierung von oben nach unten auch mit einer Demokratisierung von
unten nach oben einhergehen muss, was in der Vergangenheit zu wenig geschehen
ist.
Auf Basis der oben dargelegten Positionen zeigt
sich anhand ihres Umfangs doch sehr deutlich, welche am fundiertesten ist und
sich empirisch an der Realität orientiert. Greifen diejenigen, welche sich
einem Problembewusstsein verstell
en mit ihren teils recht monokausalen Argumentationen doch deutlich zu kurz.
Bleibt also zu konstatieren, dass sich etwas an
den Strukturen der Entscheidungsfindung und Machtverteilung innerhalb der EU
ändern muss. Ich bin allerdings der festen Überzeugung, dass dies nur durch
eine Reform von Innen heraus funktionieren kann. Würde man die gesamte Union
einfach aufgeben, so wäre die Arbeit von Jahrzehnten für immer verloren und ich
behaupte, dass sich zum jetzigen Zeitpunkt in einer wesentlich schnelleren
Geschwindigkeit kein neues Integrationsprojekt etablieren würde, dass auf einem
ähnlich fortgeschrittenen Stand wäre, wie die Union aktuell. Für die von mir präferierte
Reformoption bedarf es genau der Veränderungen, welch ich oben als Teil der
institutionellen Argumentation aufgeführt habe.
Allerdings, und dies scheint mir der wichtigste
Punkt zu sein, kann eine wirkliche Demokratisierung der EU nur dann
funktionieren, wenn das Volk der Europäischen Union - und genau dieses sind
wir, da egal wo die Menschen herkommen, welche Traditionen sie pflegen oder
welche Sprache sie sprechen, uns alle die gemeinsamen Wertevorstellungen einen
– bereit ist die dafür nötigen Reformen zu tragen und zu initiieren, sich also
aktiv am Prozess der Ausarbeitung und Implementierung beteiligen, denn alle
Öffnungen für demokratische Entscheidungsprozesse nützen nichts, wenn sie nicht
von den Menschen genutzt und internalisiert werden.
Foto-Quellen: https://de.wikipedia.org/wiki/Europäische_Union
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